The Human Equation
(2004)
Vier Jahre hat es gedauert ehe Arjen Lucassen sich nach einigen Nebenprojekten wie Star One oder Ambeon endlich wieder an ein neues Ayreonalbum gemacht hat. "The Human Equation" wurde das erste Mal auch von CD-Singles begleitet. Die Auskopplung "Day Eleven: Love" erschien einige Wochen vor dem Album, mit dem ausgemachten Ziel, igendwie in die oberen Regionen der Charts zu kommen. Und fast wäre das Unternehmen auch gelungen. Zum großen Nachteil von Ayreon wurde in den Niederlanden aber just unmittelbar vor Erscheinungstermin der Single das Singlechartsystem verändert. Nicht mehr reine Verkaufszahlen sind jetzt maßgeblich für die Positionierung, als zusätzlicher Faktor wurde nun auch das Radio hinzugezogen, je öfter man gespielt wird, um so weiter oben ist man angesiedelt. Somit hatte Ayreon im heutigen Formatradio natürlich kaum Chancen so oft gespielt zu werden, wie er es verdient. Ansonsten wäre ein Einzug in die Top10 der holländischen Singlecharts wohl möglich gewesen. Was der Single nicht gelang schaffte aber das Album. Eine beachtliche siebte Position in den niederländischen Albumcharts kam heraus und in Deutschland gelang immerhin der Einzug in die Top50. Für Progressive Rock Alben eine Seltenheit immer noch. Es zeigt aber auch, daß sich zumindest einzelne Künstler dieses Genres zunehmend Gehör verschaffen können.
Was dann auch zum Album führt: wäre Ayreon Regisseur würde
er gewiß Monumentalfilme im Cinemascopeformat drehen. Ayreons
Alben sind überbreite, bombastische Rockopern, die mit absoluter
Selbstverständlichkeit und mit hohem Können unterschiedlichste
Spielarten wie Progressive Rock, Heavy Metal, Death Metal, Pop, Space
Rock und Folk unter einem Dach vereinen. Hatte Ayreon sein 2000er
Album "The Universal Migrator" noch als zwei einzelne Alben auf den
Markt gebracht, gibt es 2004 wieder ein Doppelalbum, was sowohl dem
Album als auch der Musik besser gereicht. Ayreon ist dann am allerbesten,
wenn er sich nicht allein auf einen Stil konzentriert, sondern die
ganze Palette auf einem Album vereint.
Wie bei Ayreon üblich
ist auch die Besetzungsliste diesmal sehr umfangreich. Der Platz reicht
gar nicht, um alle Mitstreiter aufzuzählen. Am bekanntesten wird
gewiß James LaBrie von Dream
Theater sein, dazu gesellt sich die zuckersüße Heather
Findlay von Mostly Autumn,
die passenderweise als "Love" auf dem Album singt, Mike Baker von
Shadow Gallery,
Devon Graves von Dead Soul Tribe übernehmen weitere Rollen. Ayreon
wollte für sein aktuelles Album Sänger einsetzen, die noch
auf keinem anderen Ayreonalbum zuvor aufgetreten waren. Irene Jansen
hat immerhin schon auf Star
One mitgewirkt. Ganz neu und bis dato unbekannt ist die Mexikanerin
Marcela Bovio, die einen von Lucassen ins Leben gerufenen Demowettberb
anläßlich des neuen Albums gewonnen hat. Sänger aus
aller Welt konnten ihre Bänder an den Niederländer schicken,
der schließlich die Endauswahl traf.
Als weitere Gastmusiker auf einzelnen Liedern sind u.a. Martin Orford
von IQ, Oliver
Wakeman, Joos van den Broek von Sun Caged und Ken Hensley dabei,
der wie in glorreichen Uriah Heep Zeiten ein Lied mit einem grandiosen
Solo auf der Hammondorgel schmücken darf. Schlagzeuger Ed Warby
ist erneut dabei, der Rest der Instrumente wird von Lucassen selbst
eingespielt.
Die Geschichte von "The Human Equation" läßt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Ein Mann (James La Brie) erleidet einen Autounfall, landet komatös im Krankenhaus, bewacht von seiner Ehefrau (Marcela Bovio) und seinem besten Freund (Arjen Lucassen höchstpersönlich). Während die beiden bangen und hoffen und ein dunkles Geheimnis teilen, erlebt der Ehemann einen inneren Kampf seiner verschiedenen Gefühle. Er rekapituliert sein Leben, seine Verfehlungen und muß in den nächsten 20 Tagen darum kämpfen, wieder einen Grund zu finden, aufzuwachen. Jedes Lied beschreibt einen dieser Tage. Von der Thematik her erinnert das Album also ein wenig an "The Visitor" von Arena. Aber natürlich ist die Herangehensweise bei Ayreon eine ganz andere.
Bombast, symphonischer Überschwang, virtuose Instrumentaleinlagen und durchweg exzellenter Gesang der verschiedenen Rollen verschmelzen zu einem von der ersten bis zur letzten Minute überzeugenden Konzeptwerk. Vor allem die Bandbreite der Lieder sorgt dafür, daß bei der Fülle an Material keine Selbstähnlichkeit oder Langeweile aufkommt. Es ist gut möglich, daß nicht alle Passagen allen Zuhörern gefallen werden, die - sehr kurzen - Death Metal Einlagen werden jedoch in ihrer Rolle als Zorn sehr passend eingesetzt, die folkloristischen Parts erinnern etwas an Riverdance fügen sich aber ebenfalls passend ins Konzept ein. Das musikalische Gesamtgerüst stimmt einfach. Wer schwelgerische Keyboards mag, dieses gewisse "Space"-Feeling, Bombast in Reinkultur gepaart mit viel Gefühl (die Gefühle spielen auf dem Album ohnehin die Hauptrolle) und wohldosierter Härte, der wird "The Human Equation" genauso lieben wie die Ayreonalben zuvor.
Das einzige, was mir nicht so gefällt ist das manchmal sehr musicallastige Arrangement der Gesangsrollen. Es ließ sich wohl für diese Art von Geschichte nicht vermeiden. Auf jedem Lied singen mehrere Rollen, teilweise sogar nur einzelne Sätze, um ihren Part gleich danach wieder abzugeben. Ich persönlich hätte es besser gefunden, wenn es pro Lied nur einen Sänger gegeben hätte. Das ist aber nur ein kleiner Einwand. Die Sänger als solches geben Höchstleistungen ab. Im Fall von Heather Findlay gibt es sogar auch ganz neue Töne zu hören, wenn sie auf "Day Eleven: Love" wie Kate Bush in Reinkultur singt.
"The Human Equation" läßt keinen Zweifel offen. Es gehört zu den großen Höhepunkten 2004. Die Mixtur aus den verschiedenen Genres funktioniert mal wieder perfekt und Arjen Lucassen beweist nachhaltig, daß er der Großmeister aller Rockopern ist. Man wünscht sich, eines seiner Werke würde tatsächlich mal den Weg auf die Bühne finden, was angesichts der zahlreichen Musiker nur sehr selten bisher der Fall war. Was bei Ayreon auch noch auffällt ist, daß Arjen Lucassen offenbar ein ganz eigenes musikalisches Universum aufbaut. Bei Ayreon hängen alle Geschichten zusammen und so gibt es auch bei "The Human Equation" zum Ende hin einen Überraschungseffekt, der einen eleganten Bogen zu den vorangegangenen Alben schlägt. Man sollte also auf jeden Fall genau hinhören. Aber das wird kein Problem sein, denn die Musik nimmt den Zuhörer sehr schnell gefangen und man taucht ab in die Welt Ayreons.
14 Punkte
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