Amarok
(1990)
Mike Oldfield hatte sich 1989 u.a.
deshalb auch bereit erklärt voll und ganz mit Virgin zu kooperieren,
wenn diese auch seine weniger kommerziellen instrumentalen Arbeiten
mit dem selben Enthusiasmus vermarkten würden.
So gesehen war "Earth Moving" der saure Apfel, in den Oldfield beißen
mußte, um ein Jahr später etwas komplett anderes aufnehmen
zu können. Was Virgin wiederum alles andere als schmeckte.
"Amarok" bedeutete 1990 nach zwölf Jahren und diversen Alben
mit einträglichen Popliedern die Rückkehr zum albumfüllenden
Instrumentalepos. "Amarok" war gleichzeitig aber auch Dokument der
zunehmenden totalen Frustration Oldfields, der Virgin - und hier Richard
Branson - zum Ende seiner Zeit beim Label nur noch verachtete. Immerhin
war das Ende von Oldfields Kontrakt in Sicht. "Amarok" war das zwölfte
von dreizehn geforderten Studioalben Oldfields. Und es scheint so,
als wollte Oldfield damals Virgin noch ein gepfeffertes Abschiedsgeschenk
geben.
"Amarok" ist gewiß das unkommerziellste Album, das Oldfield
jemals aufgenommen hat. Nicht nur, daß es ein 60-minütiges
Mammutwerk ohne jede Unterteilung ist, so gibt es auf dem ganzen Album
nicht eine Sektion, die man auch nur ansatzweise aus dem Albumkonzept
entfernen könnte. Keine Melodie hält lang genug vor, um
daraus eine Single machen zu können.
"Amarok" bedeutete für Oldfield auch die Abkehr von den Computern,
die er in den 80er Jahren in verstärktem Maße zur Schaffung
seiner Musik benutzt hatte. Alles auf "Amarok" ist per Hand gespielt
und kommt ohne Samples aus. Eine technisch meisterhafte Leistung,
wenn man sich im Booklet allein nur die beinahe endlos ausufernde
Liste an verwendeten Musikinstrumenten anschaut.
Mike Oldfield hatte ursprünglich vorgehabt, so etwas wie "Ommadawn
2" aufzunehmen, nachdem Richard Branson erneut vorgeschlagen hatte,
"Tubular Bells II" zu machen. Oldfield wollte sich aber zuerst an
einem anderen Werk probieren und dieses fortsetzen, ehe er sich an
das übergroße "Tubular Bells" wagen würde. Außerdem
war mittlerweile klar, daß Oldfield Virgin ein "Tubular Bells
II", das allein schon aufgrund des Namens Millionenverkäufe zu
garantieren schien, nicht mehr gönnen würde. Es sollte seine
Eintrittskarte bei einem neuen Label sein.
Als "Ommadawn 2" anfänglich konzipiert scharte Oldfield die damaligen
Musiker wieder um sich. So ist die südafrikanische Truppe Jabula
ebenso dabei wie die damals eingesetzten Sängerinnen Clodagh
Simmonds und Bridget St. John. Und mit William Murray, der sowohl
die Geschichte im Booklet (auf neueren Ausgaben von "Amarok" fehlt
die Geschichte) schrieb als auch das Cover photographierte, war ein
langjähriger Freund Oldfields dabei, der damals für "Ommadawn"
zusammen mit Oldfield den Text zu "On Horseback" verfaßt hatte.
Relativ schnell nahm das Projekt aber seinen ganz eigenen Lauf und
anstelle von "Ommadawn 2" erblickte "Amarok" das Licht der Welt.
Das Album ist ein kunterbunter Mix aus diversesten Stilen, musikalischen
Verrücktheiten und gezielten Affronts gegen Virgin. So ist "Amarok"
in mancherlei Hinsicht auch geschaffen worden, um Richard Branson
und Simon Draper zu ärgern.
Z.B. gibt es auf "Amarok" enorm starke Lautstärkeschwankungen
zwischen leisen, gemächlichen Parts und plötzlich einsetzenden
überlauten Synthesizern, auch ist das Finale des Albums überlaut
geraten. Ein (vielleicht nicht alleiniger) Grund dafür war, daß
Simon Draper von Virgin die Angewohnheit hatte, die Musik laut im
Auto zu hören. Oldfield stellte sich vergnügt vor, wie Draper
bei den brachialen Lautstärkeschwankungen kurz vor einem Anfall
stand...
Für Richard Branson hat Mike Oldfield eine Morsecode-Botschaft
versteckt, die nichts geringeres als "Fuck Off RB" zum besten gibt.
"Amarok" muß man deshalb auch unter dem Gesichtspunkt sehen,
daß Mike Oldfield es Virgin noch einmal heimzahlen wollte, da
sie ihn, seiner Meinung nach, in all den Jahren zuvor nicht richtig
verstanden hatten, ihn mißachtet und teilweise gezwungen
hatten, Sachen zu tun, die er nicht wollte.
Leider leidet darunter auch die Musik. Zugegeben: "Amarok" strotz
nur so vor musikalischen Ideen, verrückten Einfällen, skurrillem
Humor und handwerklicher Perfektion. Doch bei all dem kunterbunten
Allerlei fehlt mir eine klare Linie auf "Amarok", das ich in voller
Länge nur schwer ertragen kann.
1990 fand ich das Album einfach nur gräßlich. Es gab alle
paar Sekunden oder bestenfalls minutenweise einen Themawechsel, nichts,
an dem man sich orientieren konnte, nichts, das mir musikalisch schön
erschien. Bzw. die schönen Passagen waren so kurz, daß
man kaum Zeit hatte, sie zu genießen, weil von rechts und links
schon wieder komplett andere Dinge auf einen einprasseln.
In all den Jahren habe ich mich immer wieder bemüht, einen Zugang
zu "Amarok" zu finden. Es ist mir bis heute nicht gelungen.
Vielen Fans Mike Oldfields gilt "Amarok" als sein großes Meisterwerk,
als sein bestes Album vielleicht. Ich wünschte, ich könnte
mich dem anschließen, aber auf mich wirkt "Amarok" auch heute
noch oft wie ein gezielt gemeiner Scherz Virgin gegenüber, die
angesichts des Albums sich bestimmt die Haare gerauft haben.
Unleugbar atmet "Amarok" den Geist der Frühwerke Oldfields. Es
werden Elemente von "Ommadawn" aufgegriffen, wenn die Rhythmussektion
Jabula und Sängerin Clodagh Simmonds in die Musik mit einstimmen,
es gibt auch herrlich skurrillen Humor, wie einst auf "Tubular Bells",
wenn Maggie Thatcher Imitatorin Janet Brown den Zuhörer mit "Hello
everyone..." begrüßt und solch sinnfreie Dinge wie "Endings
normally happen at the end" von sich gibt.
Und doch wirkt "Amarok" auf mich wie ein viel zu chaotisches Potpurri
an unzähligen, für sich betrachtet gute Ideen, denen aber
der wirkliche Zusammenhang fehlt.
Deshalb ist "Amarok" von allen Alben Oldfields das seltsamste - und
vielleicht kontroverseste. Denn entweder wird es von einem Teil der
Anhänger Oldfields hingebungsvoll geliebt, oder aber man kann
es nicht ausstehen. Ich finde "Amarok" über die gesamte Spieldauer
überaus anstrengend. Wer das Album nicht kennt und ansonsten
Interesse an Oldfield gefunden hat, sollte ganz gewiß einmal
in Ruhe reinhören. Vielleicht gefällt es ja. Mir leider
nicht.
Immerhin hat Mike Oldfield sein Ziel mit "Amarok" erreicht - wenn
auch nicht so, wie er es sich vielleicht vorstellte. Virgin war wohl
in der Tat alles andere als angetan von der Musik, so daß das
Album so gut wie kein Marketing bekam. "Amarok" geriet zum totalen
Flop und war bis dahin das am wenigsten verkaufte Album Oldfields.
Bei der konsequent unkommerziellen und teilweise brutal auf Gedeih
und Verderb auf Abwechslung getrimmten Herangehensweise ist es aber
fraglich, ob selbst bei entsprechender Vermarktung und Werbung der
Musik von "Amarok" mehr Erfolg beschieden gewesen wäre.
Für mich ist und bleibt "Amarok" ein Kuriosium, ähnlich
wie das ein Jahr zuvor erschienene "Earth Moving". Es zeigt aber immerhin
die Vielseitigkeit Oldfields. Erst ein durch und durch radiotaugliches
Album herauszubringen und unmittelbar darauf ein mehr als schwer verdauliches
Werk auf die Welt loszulassen, das all jenen, die nur die poporientierten
Alben der 80er kannten, gewiß völlig konfus vorkommen mußte.
Handwerklich gesehen kann man "Amarok" allerdings nur allergrößtes
Lob zollen, musikalisch aber halte ich es für zu wirr. Sehr schade,
denn es hat eigentlich alle Zutaten, die die anderen Meisterwerke
Oldfields auszeichnete. Nur daß diesmal alles in scheinbar voller
Absicht so konzipiert wurde, daß kein Teil "Amaroks" auch nur
ansatzweise auf sich gestellt verwertet werden kann.
5 Punkte
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